Lebensbewegung

Gibt es das wirklich? Wir würden Sie das einschätzen?
Die Sucht nach den anderen Leben, unstillbar, vielleicht nur durch die Literatur zu betäuben. Aber noch wahrscheinlicher, dass sie durch die Literatur erst entfacht und genährt wird, niemals jedoch befriedigt. So schreibt Tolstoi in Anna Karenina:

Anna Arkadjewna las und verstand, aber es macht ihr kein Vergnügen, zu lesen und das Leben anderer Leute wie in einem Spiegel vor sich zu sehen. Sie wollte selbst nur zu sehr leben. Sie las, wie die Heldin des Romans einen Kranken pflegte, und sie wünschte, selbst mit unhörbaren Schritten durch das Zimmer des Kranken zu gehen; ein Parlamentsmitglied hielt eine Rede, und sie wollte selber diese Rede halten; Lady Mary galoppierte hoch zu Roß hinter der Meute her, neckte ihre Schwägerin und versetzte alle Teilnehmer der Jagd durch ihre Kühnheit in Erstaunen, und sie hätte das selber gern getan. Aber sie konnte nichts tun, und sie zwang sich zum Lesen und drehte das Papiermesser in ihren kleinen Händen…

Das Lesen macht uns erst mit der Unermesslichkeit der Menge aller anderen möglichen Leben bekannt, es gibt ihnen Namen und ordnet ihnen konkrete Erlebnisse zu, holt sie aus dem Theoretischen ins Mögliche, ins eigentlich irgendwo zu Verortende. Und das Schmerzliche ist, dass wir beim Lesen unser eigenes Leben anhalten, wir unterlassen es, Dinge zu tun, während und weil wir lesen. Einzig der Kranke bildet die Ausnahme, für ihn ist das Lesen nur Zugewinn und hindert an nichts, hält von nichts ab. Lesen ist dann alles und kann alles ermöglichen: Die Reise in andere Zeiten und an andere Orte, in andere Menschen, in andere Köpfe mit fremden und doch vertrauten, geliebten oder verdrängten Gedanken. Aber ist das Ersatz? Wie viele Leben könnte man leben, könnte man in einem physischen Dasein schadlos wohl unterbringen? So groß ist die Sucht, dass es wohl niemals genug wären, dass mit jedem neuen Leben ein anderes gelebt werden will. Wie Fritz Kater [Pseudonym] schreibt: ein baum steht ein leben lang an einer stelle – die Welt ist unbegreiflicher, je länger man sich in ihr bewegt, das mag vielleicht eine Antwort sein. Und der Stille begreift? Oder hat schon begriffen?

Fritz Kater - 5 Morgen
Fritz Kater – 5 Morgen

globales Lesen & globales Entzünden

Hier entsteht ein eine neue Seite über Literatur, die es sich als Ziel setzt, mit möglichst vielen Interessierten möglichst viele Texte, Fragmente, Auszüge, Gedichte oder Essays berühmter oder weniger berühmter Autoren zu teilen. Die Literatur ist aufgrund ihrer Sprachbezogenheit sicherlich schwieriger zu verbreiten als Werke der bildenden Kunst, der Musik oder der Plastik. Sie ist außerdem etwas Privateres, ihre Rezeption erfolgt im Stillen, getrennt von den Anderen, alleine. Aber gehen wir gegen diese Isolation vor, kann der Austausch neue Dimensionen eröffnen und Kontaktpunkte verbinden, die vorher kaum sichtbar und vielleicht nicht vorhanden gewesen sind. Literatur kann Menschen sicherlich trennen, doch kann sie auch Menschen verbinden und Menschen vereinen.

Jeder ist eingeladen, Kommentare zu hinterlassen oder Beiträge zu liefern. Literaturglobal will verknüpfen und alle miteinander in Beziehung setzen, die entzündet von der literarischen Grazie mit dem Kopf in den fiebrigen Wolken liegen – zum Gruße den Hut lüftend…~ R.